Heilende Worte
»Herzliches Beileid« bekundet man mir hinter der Anmeldung aufrichtiges Mitgefühl. Ich bin in der Arztpraxis meines Vertrauens und benötige eine Krankmeldung. »Wie geht es Ihnen?« möchte die Fr. Doktor wissen, die auch die Fr. Doktor des Vaters war.
Nachdem ich meinem Kummer Worte gab, wird sie still und rutscht unruhig auf ihrem Stuhl herum. So kenne ich die Fr. Doktor nicht – sie hält etwas zurück. Sie ist mit sich im Zwiegespräch, das sehe ich ihr an. Und dann spricht sie doch endlich:
»Ihr Vater, Fr. M., war ganz anders – viel ruhiger und freundlicher, wenn Sie nicht in seiner Nähe waren«. Ich schaue die Fr. Doktor ratlos an und sie ergänzt: »Sobald Sie in seiner Nähe waren, war er wie ausgewechselt.
Er hat Ihnen Anweisungen gegeben und Sie haben sie allesamt befolgt. Sie haben alles, aber wirklich alles, was Ihr Vater von Ihnen gewollt hat – sei es noch so unsinnig, mitgemacht. Da gab es Situationen, da hatte Ihr Vater, nach meinem Empfinden, eine Ohrfeige verdient«
Diese klaren Worte der Fr. Doktor haben mich ganz sprachlos werden lassen. Wie vom Donner gerührt saß ich da. Und dann brachen in mir alle Dämme. Aber diese Tränen waren anders – ich heulte, weil ich mich verstanden fühlte. Ich fühlte mich befreit. Darf man das so sagen?
Mutters Beerdigung
Die meisten Trauergäste tragen kein schwarz und ich habe mich entschieden, Mutters Lieblingsfarbe zu tragen.
“Es soll eine bunte Beerdigung werden – kommt so, wie ihr euch wohlfühlt” haben wir in der Traueranzeige geschrieben.
Nervös bewege ich mich vor der Kapelle auf und ab. Zwanzig Tage nach ihrem plötzlichen Tod ist jetzt der Augenblick gekommen, um endgültig Abschied zu nehmen. In den Wochen zuvor habe ich schon so viele Abschiede von ihr erlebt.
Dieser Tag ist ein warmer, sonniger Tag und die Sonnenstrahlen wärmen mich von außen und auch ein bisschen von innen. Gelegentlich nicke ich bekannten Gesichtern zu, die sich hinter Corona-Masken verbergen.
Mutters Schwestern sind auch gekommen. Die jüngste Schwester habe ich zuletzt 1986 gesehen. Der Tod hält eben auch Überraschungen bereit. Und so beobachte ich Menschen, die sich vor Freude und Trauer gleichermaßen in den Armen liegen.
Der Tod entzweit Menschen und der Tod führt Menschen auf sehr seltsamen Wegen zusammen.
Der Bestatter deutet mit einer ausladenden Geste den Beginn der Trauerfeier an. Es bedarf keinerlei Worte. Einer unsichtbaren Rangordnung folgend, nimmt die kleine Gruppe ihre Plätze ein. Wie Sand aus dem Meer, spülen sie sich ganz selbstverständlich in die harten Sitzbänke. Die zuvor schwermütige Melodie wechselt nun zu einer lebhafteren.
Die Schwester und ich sitzen in der ersten Reihe und flankieren den Vater, der in seinem Rollstuhl sitzt. Ich sitze links vom Vater und bemerke im Augenwinkel, dass er meine rechte Hand greifen möchte. Ich ziehe meine Hand zurück und lege sie in meinen Schoß.
Der Vater hat von der Mutter ein Foto in noch sehr jungen Jahren gewählt. Jugendlich deutet sie uns ein Lächeln an und wirkt deshalb sehr fremd auf mich. Die Trauerrednerin bringt sich in Position und ich versuche, mich von meinen Gedanken weit weg tragen zu lassen.
Inzwischen stehen wir am Grab. Da meine Beine etwas zitterig sind, verliere ich ein wenig das Gleichgewicht. Um Haaresbreite wäre ich beinahe in das ausgehobene Loch gestolpert. Allerdings kann ich mich noch rechtzeitig fangen. Während ich selbst überrascht aufkeuche, höre ich, wie jemand in meiner Nähe scharf die Luft einzieht.
Komik, wie sie sonst das Leben schreibt, kann auch der Tod.
Behutsam greife ich in ein Gefäß und meine Hände fassen kühle Rosenblätter. Ganz langsam lasse ich die schönen Blüten auf Mutters Urne rieseln. Der Schmerz überwältigt mich.
Viel zu spät ehre ich dein Leben. Nicht, weil du ein besonders schönes Leben gehabt hättest. Nein – weil du so lange durchgehalten hast. Der Gedanke und die Erkenntnis wiegen schwer in mir.
~
Die Luft ist ganz mild und wir feiern ausgelassen. Was gefeiert wird, weiß ich nicht. Niemand hat Geburtstag. Niemand heiratet. Wir feiern wohl einfach das Leben. Essen und Getränke stehen reichlich auf dem langen Tisch bereit, der vielen Gästen ausreichend Platz bietet.
Von diesen vielen Menschen kenne ich nur dich, aber wir alle lachen viel gemeinsam und haben viel Spaß zusammen. Plötzlich wird die Melodie “To Love Somebody” von den Bee Gees angespielt. Du reichst mir deine Hand, die ich lachend ergreife und wir singen dieses Lied, als hätten wir schon viele Male zusammen gesungen.
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Intuition
Tranken wir einst aus den Quellen der Erde,
erfüllte das vibrieren unserer Herzen ihren Raum.
Erinnerten wir ein weises Flüstern,
ließen die Gedanken anderer werden in uns laut.
Doch achtlos wir lassen all dies verkümmern,
es nun schlummert an einem fernen Ort.
Allzu geduldig es jede Nacht wartet,
bis es eine Stimme bekommt im Traum.
(© Birgit M. 1998)
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