Flügelschläge | 9

Neun Monate

Neun Monate nach Mutters Tod stirbt auch der Vater. Vor Mutters Tod, starb neun Monate zuvor mein Onkel – ihr Bruder.

»Kommen Sie bitte, Ihr Vater „macht sich auf den Weg“« bittet man die Schwester, die man am Handy kontaktiert. Wir lassen alles stehen und liegen und gehen sofort ins Pflegeheim. Dort angekommen, fängt man uns ab – wir kommen zu spät.

Die ehrenamtliche Helferin hat Tränen in den Augen. Die Schwester versteht und bricht ebenfalls in Tränen aus. Ich bin… derweil… im Zombiemodus…

In seinem Zimmer angekommen, liegt er in seinem Bett. Das dritte verstorbene Familienmitglied innerhalb von nur achtzehn Monaten, dessen Hand ich nun halte.

»Schweißig warm ist der Vater« gucke ich die Pflegerin fragend an. »Das ist normal«, versichert sie mir.

»Ihr Vater war auf Vieles stolz und hat aber auch einiges bereut« spricht die Pflegerin zu uns. Voller Erwartung schaue ich sie hoffnungsvoll an.

»Ich kann Ihnen leider nichts Genaueres dazu sagen, weil Ihr Vater sich nicht mehr dazu äußern kann« erkennt sie meinen fragenden Blick. Und ich bin fassungslos darüber.

Warum behält sie es dann nicht einfach für sich?, ärgere ich mich innerlich. Mich ärgert, dass er ohne vorheriger Aussprache gestorben ist. Die Mutter hatte keine Chance, sich uns noch weiter mitzuteilen. Der Vater jedoch hätte einiges mit mir bereinigen können.

Jemand riet mir allerdings, dass für den Vater alles stimmig gewesen sei, weshalb er nichts zu bereinigen hatte und dies nur meine Erwartungshaltung dazu sei. Ich fühle, dass das stimmt.

Freiheit

Stunde um Stunde sitzen wir an seinem Bett. Und wir warten. Auf den Bestatter zum Beispiel. Man lässt uns in Ruhe. Kaffee, Kekse und Wasser stehen für uns bereit. Eigentlich weiß ich gar nicht, was wir jetzt tun sollen. Tatsächlich bemerke ich nicht einmal, dass ich nicht weiß.

Für diese paar Stunden habe ich das Bewusstsein eines Kindes, welches einfach nur geschehen lässt. Noch immer verweile ich an seinem Bett und betrachte den Vater jetzt etwas genauer. Er wirkt jetzt gebrechlich. Alle Dominanz ist aus im gewichen.

Sein Mund ist geöffnet und ich versuche mehrfach ihn zu schließen. Weil mir das irgendwann würdelos erscheint, gebe ich es schließlich auf.

Ich ziehe seine Bettdecke zurück und wir beide erschrecken darüber, wie ausgemergelt der Vater inzwischen ist. Seine Klamotten waren in den vergangenen Monaten viel zu groß geworden und verbargen seinen tatsächlichen Zustand.

Angetrieben von meiner Neugier, fasse ich den Körper des Vaters an. Ich taste den Brustkorb, taste seine dünnen Beine und versuche erneut und leider vergeblich seinen Kiefer zu schließen. Jetzt ist sein Körper kühl und gar nicht mehr feucht. Und so still ist der Vater.

Keine Spitze trifft mehr mitten ins Herz – so befreiend still. Für den toten Vater kann ich jetzt ein vages Gefühl der Freundschaft empfinden.

Später werde ich so langsam unruhig und ich fange an, des Vaters Sachen zusammenzupacken. Die Schwester sitzt noch wie angewurzelt.

Der Vater liegt tot im Bett und ich räume zusammen. Verrückt. Die Pflegerin kommt ins Zimmer und erkundigt sich, ob sie etwas für uns tun kann. Nein, kann sie nicht, antworte ich ihr. Ob sie es schräg findet, dass ich des Vaters Sachen jetzt schon zusammenräume? möchte ich von ihr wissen.

»Sie glauben ja gar nicht, was die Leute so alles tun« erklärt sie lebhaft. »Es ist das richtig, was sich für Sie richtig anfühlt« ergänzt sie weiter und macht wieder nicht den Eindruck, dazu konkreter werden zu wollen.

Ich mache also einfach weiter und manchmal glaube ich den Vater schimpfen zu hören, weshalb ich xyz mache, und ich soll es gefälligst zyx machen.

Die Schwester traut sich inzwischen auch zusammen zu räumen. Vaters Tod nimmt sie mehr mit als mich. Für den Bestatter muss es seltsam sein, den Vater inmitten der zusammengeräumten Sachen und gepackten, blauen Säcken abzutransportieren.

Wir denken aber, wir haben jetzt genug gewartet und bekommen es nicht mehr mit.

~

Wieder hocke ich neben dir auf den Boden. Die Kriminalbeamten sind fort. Man hat dir die Wärmefolie übergelegt. Erneut überkommt mich diese Scheu, sie dir aus dem Gesicht zu nehmen. Ob du dich in dieser Zeit bereits verändert hast? sorge ich mich unbegründet.

Meine Tochter kommt nun auch näher. Sie hat die Oma sehr geliebt. »Möchtest du sie ein letztes Mal berühren?« frage ich meine Tochter einfühlsam. »Ich weiß nicht« zögert sie mit wässrigen Augen.

Ein letztes Mal muss ich dich nun gehen lassen. Und ich bin wieder erstaunt darüber, wie viele letzte Male so eine Endgültigkeit eigentlich mit sich bringt. Der Bestatter kommt dich abholen. Während du in den Sarg gelegt wirst, wende ich mich ab und verlasse den Raum – das ertrage ich nicht. Ich sehe, wie sie dich ins Auto laden. Du wirst noch in die Gerichtsmedizin gebracht.

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