Zuhause stehe ich an meiner Spüle und lasse frisches Wasser in mein Weinglas laufen – niemand mag Spülmittel im Wein.
Du siehst gar nicht tot aus. Vielmehr wirkt es so, als ob du schläfst. Nur die Tatsache, dass ich neben dir mitten im Flur, auf dem Boden sitze, lässt vermuten, dass du nicht einfach bloß schläfst.
Noch heute spüre ich dein Haar in meiner rechten Hand, denn mit meiner Linken streiche ich von deiner rechten Schläfe hinunter zur Wange.
Immer wieder fahre ich diese Linie nach. Die Zeit steht still. Hellrotes Blut sickert in einem zarten Rinnsal aus einer Wunde an deinem rechten Auge. Wunden Verstorbener bluten einfach weiter, weil die Gerinnung nicht mehr funktioniert, lerne ich.
Längst habe ich etwas von deinem Blut an meiner Hand. Das ist so unwichtig.
~
Fünf Minuten später, nachdem der Vater geklingelt hat, klopft es an seiner Zimmertür.
Mohammed – der einen anderen Namen hat – betritt schwungvoll den Raum. »Hallo, was kann ich für dich tun?« erkundigt er sich herzlich.
»Meine Windel muss gewechselt werden« teilt der Vater Mohammed mit.
»Dann stell dich mal dort drüben hin« gibt Mohammed dem Vater Anweisungen.
»Ich warte dann mal eben draußen!« plane ich währenddessen auf der Terrasse zu verschwinden und greife hektisch nach meiner Jacke und auch nach meiner E-Zigarette.
»Du kannst ruhig zusehen, wie Dein Vater die Windel gewechselt bekommt« meint der Vater.
»Danke, aber ich warte lieber draußen«
»Du kannst doch…?!«
»Nein…!, Papa«
»Lassen Sie Ihre Tochter doch gehen« mischt sich jetzt Mohamed ein. »Nicht alle Angehörigen wollen…«
Bevor ich die Tür schließe, werfe ich Mohammed noch einen dankbaren Blick zu – Mohammed versteht.
Fotos
An diesem Tag räume ich drei riesige Stapelboxen in mein Auto. Ich habe beschlossen, mich der schieren Menge an Fotos anzunehmen.
»Klar, nimm sie mit« zuckt die Schwester mit ihren Schultern. Bei der Durchsicht beginnt für mich eine Reise durch die Zeit. Weniger, weil es von mir selbst Fotos gäbe – nein. Ich habe es schon immer gehasst, fotografiert zu werden, weshalb es nur sehr wenige Ablichtungen von mir gibt. Aber ich erkenne und erinnere die Situationen und nicht selten habe ich beim Anblick einiger Fotos einen vertrauten Geruch in meiner Nase.
Es wurde wirklich alles fotografiert und selbst die richtig schlechten Aufnahmen wurden behalten – allesamt. Neben mir liegt jetzt ein großer Müllsack und dieser wird gefüllt mit solchen Aufnahmen. Und auch Bilder, auf denen ich niemanden erkenne, müssen weg. Die Masse muss deutlich dezimiert werden. Swipen kann man da ja leider noch nicht. Inzwischen bin ich beim Geburtsjahrgang meiner Tochter angekommen. Hauptsächlich entstehen jetzt Aufnahmen der Enkel und auch der Tageskinder meiner Mutter.
Es folgen unfassbar viele Photos von den vielen Tageskindern. Auch die werde ich nicht behalten wollen.
Die Tageskinder wurden zu allen möglichen Anlässen abgelichtet und in allen möglichen Positionen. Als hätte jemand dabeigestanden und unsinnige Anweisungen gegeben: von rechts bitte, von links bitte, jetzt bitte zwei Zentimeter bewegen…!
Auch im Sommer wurde reichlich fotografiert. Im Garten. Im Planschbecken. NACKT. Damals war das so üblich.
Jetzt reicht es leider nicht mehr, die Fotos einfach zu zerreißen, dass man die Kinder nicht mehr erkennt. Jetzt habe ich plötzlich richtig viel Arbeit damit, kleine Kinder-Po’s und Geschlechtsteile unkenntlich zu machen. Ich möchte nicht eines Tages das SEK vor meiner Haustür stehen haben, weil ich abgelichtete, nackte Pampers-Rocker über den Hausmüll entsorge. Phantastisch. Da wünscht man sich ein großes Feuer. Ostern ist leider vorbei. Ich fluche so schlimm, dass ich mir vermutlich reichlich mieses Karma auflade. Ich finde diese Fotos mindestens so gefährlich, wie das Gewehr.
Physik endet nicht im Pflegeheim
Einige Tage nach Vaters Einzug ins Pflegeheim merkte er an, dass er noch nicht geduscht wurde. Okay, rolle ich innerlich mit den Augen. Alle guten Dinge sind drei. Die Pfleger sind allesamt mehr als ausgelastet. Was Angehörige selbst erledigen können, wird dankbar angenommen. Ich rede mir ein, dass ich den Pflegern einen Gefallen mache.
Damit der Vater nicht friert, hält er sich die gesamte Zeit den Brausekopf auf die Brust. In der barrierefreien Umgebung habe ich auch schön viel Platz und registriere nur ganz, ganz nebensächlich, dass auch Wasser in Richtung der Schiebetür läuft. Allzu ernst nehme ich diese physikalische Gesetzmäßigkeit aber nicht, da mein Vertrauen in die Architektur größer ist. Fehler.
»Papa, ich werde dich sicher nicht noch einmal duschen!« brülle ich fünf Minuten später verzweifelt in die Nasszelle hinein, in der der Vater noch auf mich wartet.
Ich habe größte Mühe, der riesigen Wassermassen Herr zu werden, die reichlich in seinen Wohnraum geflossen sind. Zur Beseitigung habe ich nämlich nur sein großes Badetuch zur Verfügung. Ausnahmsweise widerspricht mir der Vater nicht.
Das Haus und ich sind leer
Schon seit vielen Wochen räumen wir das Haus aus.
Die Räume lichten sich, wohingegen das Chaos paradoxerweise exponentiell zunimmt. Gegen diese Unmenge an Hausrat haben wir keine Chance. Wir beschließen eine Entrümpelungsfirma zu beauftragen.
Zwei riesige Container werden gefüllt.
Abschließend begehe ich sämtliche Räume mit einem beklemmenden Gefühl in der Magengrube. Mein Inneres ist jetzt mindestens so leer, wie nun diese Räume.
Glaube
»Glaubst du, deine Mutter ist bei uns?« fragt mich der Vater eines Tages und für mich völlig überraschend.
Es ist jetzt später im Jahr 2021. Wir sitzen auf der Terrasse. Der Vater bewegt sich längst ausschließlich in seinem Rollstuhl vorwärts.
Seine Beine sind inzwischen so dünn, dass sie ihn nicht mehr tragen können. Während wir manchmal viele Stunden dort verbringen, raucht er.
»Ich habe sie mal dort sitzen sehen« ergänzt er weiter und zeigt in eine Ecke des Gemeinschaftsraums.
Solch tiefgründige Gespräche führe ich eigentlich nicht mit dem Vater. Aber ich erzähle ihm alles, was ich selbst erlebt habe, was mir andere Familienmitglieder zu erzählen wussten oder was ich mir angelesen habe.
Er unterbricht mich kein einziges Mal, was ich sehr erstaunlich finde.
»Ich glaube es nicht nur, Papa. Ich weiß es« ende ich meinen Monolog.
Der Vater macht einen zufriedenen Atemzug an seiner Zigarette.
~
Zurück zuhause löst sich mein Zombiemodus langsam von mir. Ich mag ihn nur ungern gehen lassen. Er ist mir zum Freund geworden. Er schließt mich in seine Arme und hält zusammen, was ansonsten auseinander bricht – er hält mich zusammen. Die Gefühle sind zu intensiv und es sind zu viele auf einen Schlag, da sie täglich für viele Stunden durch die Starre zurückgehalten werden. Mehrere Schlucke Wein legen sich wie ein sanfter Filter darüber und mildern den Abgrund etwas ab. Nur die bleibenden Tränen kann Wein nicht trocknen.
Man teilt mir mit, dass ich dich allein lassen muss, weil die Kriminalpolizei dich untersuchen muss. Aha.
»Wie lange dauert die Untersuchung?« erkundige ich mich mit steifen Knochen.
»Etwa eine Stunde« antwortet mir jemand.
Die Kriminalpolizei stellt Fragen. Die Mutter hat etwas oberhalb der noch blutenden Wunde, noch eine weitere, junge Wunde, welche sich aber bereits verschlossen hat. Das bedeutet, sie hat gelebt, als diese Wunde entstand.
»Hatten Ihre Eltern streit?« möchte der Beamte wissen.
»An diesem Morgen hatten wir keinen Streit!« ruft der Vater dazwischen.
Nach einer halben Stunde geht mir die Geduld aus, also öffne ich schwungvoll die Wohnzimmertür und schaue in den Flur. Ich erstarre inmitten der Bewegung. Du liegst jetzt ganz entblößt und die Kriminalbeamten, welche Fotos zur Dokumentation aufnehmen, rucken mit ihren Köpfen in meine Richtung. Wir gucken uns an. Ich stolpere zurück. Jemand kommt mir nach und erklärt.
Die schwarze Schleife an der Tür
»Was ist da bei deiner Zimmernachbarin passiert?« möchte ich eines Tages vom Vater wissen.
Bedeutungsvoll zieht der Vater seine Brauen in die Höhe, nimmt einen tiefen Zug an seiner Zigarette und spricht:
»Der Notarzt war heute früh hier. Die Frau Meier – die nicht so heißt – ist über die Balkonbrüstung drüber und ist gesprungen. Die konnten da aber nichts mehr machen«
»Puh, das ist schrecklich!« sage ich ergriffen.
»Nein« widerspricht der Vater nachdrücklich, »das ist mutig!«
Ich schaue ihn aufmerksam an und weiß genau, was in ihm vorgeht. Der Vater baut körperlich zusehends ab. Ich bin mir sicher, dass er der Seelsorgerin von seiner Todessehnsucht erzählt hat. Zu springen traut er sich nicht.
Aber er beginnt das Sterbefasten. Das ist wie Springen, nur langsamer.
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