Bitte, bitte
Der Vater fleht mich an, zu ihm ins Haus zu ziehen. Der Vater fleht auch die übrige Familie an. Seine ganze Verzweiflung legt er in diesen Blick: Weit aufgerissene, tränenreiche Augen blicken mich flehentlich an. Ich muss gar nicht lange überlegen. Wohl aber muss ich überlegen, wie ich es ihm sage. Es zerreißt mir das Herz. Schönfärbende Worte finde ich jedoch keine, deshalb sage ich es geradeheraus, wie es meine Art ist: »Papa, wir können nicht zusammenwohnen, das geht nicht gut mit uns – wir würden uns an die Gurgel gehen«
»Das Haus muss weg« stelle ich später fest. »Das Haus muss weg« echot der Vater tonlos, aber einsichtig. Auch dem Vater ist jetzt klar, dass er nicht im Haus bleiben kann.
Die Familie hat alle Möglichkeiten durchgespielt. Die vernünftigste Lösung ist das Pflegeheim. Aufgrund seines Prostatakrebs hat er bereits deutlich an Gewicht eingebüßt. Die Medikamente, die er nehmen muss, bewirken unter Anderem den Verlust von Muskeln. Außerdem hat ihn sein gelebtes Patriarchat in einem Zustand höchster Unselbstständigkeit belassen.
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Im Clemens Hospital verlagere ich mein Gewicht vom rechten Sitzhöcker auf den linken Sitzhöcker. Die schmale Sitzbank ist nicht darauf ausgelegt, länger darauf Platz zu nehmen. Hier zieht man sich nur um.
Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich noch fünf Minuten in der winzigen Umkleidekabine ausharren muss, bis der Vater mit der Bestrahlung fertig ist. Die Bestrahlung dauert insgesamt zwanzig Minuten. Sobald der Vater zurück ist, ziehe ich ihn wieder an. Dazu muss ich mich gut organisieren und das perfekte Timing für ganz profane Dinge finden. Es finden sich immer Gründe, mich anzuranzen. Es spielt keine Rolle, ob ich heute etwas mache, wie er es sich gestern gewünscht hätte.
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Schon etwas länger sitze ich zuhause auf meiner Couch. Ich schaue nicht fern. Das Radio läuft nicht. Dieser Film läuft exklusiv für mich – in meinem Kopf: Ich hole tief Luft und will mich gerade darüber aufregen, weshalb man mich in eine solche Panik versetzen muss, wenn du doch da unter der Treppe sitzt…?! Da lenkt mein Schwiegersohn meinen Blick auf eine Stelle auf den Fußboden im Flur und mein Herz setzt einige Schläge aus. Nun sehe ich dich – vom Kopf bis zu den Füßen in Wärmefolie gehüllt und jetzt erkenne ich, dass ein Rettungshelfer unter der Treppe sitzt und konzentriert Notizen auf seinem Klemmbrett schreibt.
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Telefonate mache ich jetzt vorzugsweise nur noch während meines Zombiemodus. Da bin ich pragmatisch. »Wie kannst Du nur so ruhig darüber sprechen?« möchte eine Freundin von mir wissen. Während ich ihr ruhig meinen Zustand erkläre, weint sie. Ich tröste sie und weiß, ich selber werde später weinen.
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